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Der grüne Zauberer

Eine fantastische Kurzgeschichte über die Pouetta Raisse NE
05.04.2024
Was wartet oberhalb des Ruisseau du Breuil? Bilder: Raja Läubli

In der Schlucht der Pouetta Raisse im Neuenburger Val de Travers verbirgt sich die Tür zu einer anderen Welt voller Magie und Mysterien. Die welsche Schriftstellerin Emmanuelle Robert öffnet in ihrer Geschichte diese Tür – und lüftet ein jahrhundertealtes Geheimnis.

Der Tag hatte schlecht begonnen. Ich hatte überhaupt keine Lust zum Wandern, aber Guillaume wollte unbedingt, dass ich ihn begleite. Zu verliebt, um mich zu widersetzen, gab ich nach.

So fuhren wir denn in den hellen Junimorgen hinein. Die Tannen entlang der schmalen Landstrasse schienen den Himmel zu berühren, und zwischen Trockensteinmauern weideten Kühe.

Auf der Fahrt erklärte Guillaume die Route der Wanderung. Und sagte auf einmal im selben Tonfall einen Satz, von dem ich zuerst dachte, ich hätte ihn falsch verstanden: «Sie hat darauf gedrängt!» «Moment mal, was war das?» «Sie erwartet ein Kind. Aber Schatz, das ändert nichts zwischen uns.»

Um mich zu beruhigen, legte er seine Hand auf mein Knie. Vor Schmerz wie gelähmt, sagte ich ihm, er solle anhalten – hier und jetzt. Ich schnappte meinen Rucksack, stieg aus und schlug die Wagentür zu. Über einen nahen Feldweg rannte ich in den Wald und lehnte mich an einen Baumstamm, um wieder zu Atem zu kommen. Bald darauf sah ich, wie Guillaume näher kam und, als er mich nicht finden konnte, die Arme verwarf, umdrehte und zurück zum Auto ging.

Ich wollte nicht, dass er meinen Kummer sah. Seine Frau war schwanger. Ich war nur «die Andere». Was war ich doch für eine Idiotin gewesen!

Ohne Blick für die Landschaft und ohne Ziel vor Augen ging ich weiter. Mein Handy meldete «Kein Netz», aber jeder Weg führt irgendwohin. Unweit einer Alp zeigte ein gelber Wegweiser nach Môtiers. Der Pfad war nicht mehr als ein enger Durchgang, der den Wald zu spalten schien. Zögernd wagte ich mich vor. Die steil aufragenden Felswände der Schlucht verdeckten den Himmel. Hoch oben klammerten sich die Tannen fest, so gut sie konnten.

War es klug weiterzugehen? Egal, war mir doch einerlei, ob ich sterben oder einen Bahnhof finden würde.

Die Schlucht verengte sich weiter, bis ich beide ihrer Wände berühren konnte. Ich hielt mich am Handlauf fest. Von unten schien mich der Abgrund zu rufen. Ich musste mich zwingen, auf dem Weg zu bleiben, der über eine in den Stein gehauene Treppe hinunterführte. Nach vorne schauen. Nur nicht nach unten. Und nicht an meine Träume einer Zukunft mit Guillaume denken. An seine Lügen, seine Feigheit. Ich passierte einen Steg, der sich über eine Leere spannte. Die Leere meines Lebens.

Meine Beine zitterten so sehr, dass ich anhalten musste. Während sich mein Atem beruhigte, lauschte ich dem Summen der Insekten, dem ohrenbetäubenden Gezwitscher der Vögel und dem leisen Plätschern eines Rinnsals. Hier hatte ein Bächlein eine so gewaltige Schlucht gegraben?

Ich weiss nicht, wie lange ich unterwegs war. Einen Schritt nach dem anderen erreichte ich schliesslich den Grund der Schlucht. Die Vegetation war dicht, die Stämme der Bäume von Moos überzogen. Es war dunkel. Zwischen hohen Farnen schienen sich ausgemergelte Sträucher im Schattenboxen zu üben. Mein Weg führte dem Flussbett entlang. Es war völlig ausgetrocknet. Der Anblick war beängstigend.

Plötzlich vernahm ich ein Wimmern. Hatte sich ein Hundewelpe verlaufen? Die Rufe waren so schwach, dass sie durch das Rauschen des Windes hindurch kaum zu hören waren. Ich liess meinen Blick über die staubtrockenen Kiesel schweifen und machte alsbald eine Art Eidechse aus. War es wirklich dieses kleine Ding, das solche Laute von sich gab? Ich ging in die Hocke. Mein Herz krampfte sich zusammen. Es gab auf der Welt ein Wesen, das mehr litt als ich.

Regungslos verharrte das Tierchen in der Steinwüste. Bestimmt hatte es Durst. Ich holte meine Trinkflasche hervor und liess ein paar Tropfen herunterfallen. Das Geschöpf öffnete sein Mäulchen ein wenig, doch das Wasser rann daran vorbei. Flehend sah mich die Kreatur an, bevor sie die Augen schloss, mit den Kräften am Ende. Ich überwand meine Abscheu vor Reptilien, goss etwas Wasser in die hohle Hand und hielt es ihr hin. Die Echse liess ihr erstaunlich langes Zünglein herausschnellen und begann zu schlabbern. Das Wesen wollte leben!

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