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Kolumne ABO

Wandern ist Fiktion

12.07.2024

Vor Kurzem habe ich ungewöhnlich lange nach einem Splitter gestochert, der sich in meine Fingerkuppe gebohrt hatte. Dabei wurde mir bewusst, dass ich es oft nicht lassen kann, Dinge anzufassen, wenn ich draussen unterwegs bin. Manchmal streiche ich über Oberflächen, weil ich mit meinen Gedanken irgendwo hängen bleibe und sich das gut anfühlt dazu. Und manchmal mache ich das, weil mich die Form oder Struktur eines Objekts fasziniert. Wenn es die Umstände erlauben – das heisst, wenn das Ding weder lebendig noch zu schwer oder grösser als meine hohle Hand ist –, stecke ich es ein und nehme es mit. Am liebsten mag ich Kastanien, flache Steine und farbige, harte Plastikstücke. In meiner Jackentasche klacken die Objekte dann aneinander, und beim Weiterwandern stelle ich mir vor, woher sie kommen, wer sie vor mir schon angefasst hat und was sie miteinander zu tun haben. Meistens entsteht so eine neue Geschichte in meinem Kopf. Von der Autorin Ursula K. Le Guin gibt es diesen bekannten, für die Literaturtheorie ziemlich relevanten Essay aus den 1980er-Jahren: «The Carrier Bag Theory of Fiction». Darin plädiert Le Guin dafür, Geschichtenerzählen anders zu denken als in klassischen Heldenepen. Sie vergleicht die menschliche Erzähltradition mit dem Gebrauch einer Tragtasche: Schliesslich muss ein Behälter eines der frühsten menschlichen Werkzeuge gewesen sein. Ein Behälter, in dem Nahrungsmittel und andere wichtige Gegenstände transportiert, nach Hause gebracht und geteilt wurden. Oder eben, eine Tragtasche voller Geschichten – die nicht von einer gewaltvollen Jagd erzählen, sondern vielleicht von bereichernden Begegnungen, der alltäglichen Arbeit und neuen Berührungen. Meine Jackentasche wird nach meinen Streifzügen auch genau dazu – einem «Carrier Bag of Fiction». Ich bin damit natürlich nicht allein; online verfolge ich zum Beispiel eine Künstlerin, die ihre gefundenen Objekte aufreiht und fotografiert.

Sobald meine Haut diesen Splitter von selbst rausgearbeitet hat, lege ich den vielleicht zu meinen schrumpeligen Kastanien auf die Fensterbank. Wer weiss.

Zur Autorin

Ava Slappnig hat Germanistik, Gender Studies und Kulturpublizistik studiert. Sie arbeitet als Aufsicht im Kunstmuseum Bern und als Journalistin im Kulturbereich. Neben den offiziellen Wanderwegen erkundet sie auch mal Diskurse, Ideen und gesellschaftliche Phänomene.

Zu jeder Kolumne gestaltet die junge visuelle Gestalterin Leonie Jucker aus Bern eine lllustration.

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