Ihr Arbeitsplatz ist der höchstgelegene der Hauptstadt: Daniela Wäfler ist die Turmwartin des Berner Münsters. Auf einem Regenspaziergang zum gotischen Sakralbau spricht sie über ihr neues Amt und ihre Verbundenheit zu zwei Welten mit ebenso vielen Gemein
Manchmal nimmt Daniela Wäfler zur Arbeit ihren Schlafsack mit. Diesen breitet sie am Abend auf einer Luftmatratze aus und verbringt die Nacht im Turm des Berner Münsters, fast 100 Meter über den Dächern der Bundeshauptstadt. «Ich fühle mich dabei ein wenig wie in einer SAC-Hütte», erzählt die ehemalige Hüttenhilfe der Lämmerenhütte VS. «Erst recht, wenn zum Beispiel ein Apéro stattgefunden hat und ich Getränkeharassen die Treppe hinauf- und hinuntertragen musste.» Tatsächlich ist das nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen dem Job als Turmwartin und der Arbeit in den Bergen.
Neben Ihrer Anstellung am Berner Münster sind Sie auch als Wanderleiterin tätig. Kommt Ihnen das bei Ihrer Aufgabe als Turmwartin zugute?
Es gibt erstaunlich viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Münster, dem wahrscheinlich prominentesten Sinnbild des städtischen Berns, und den Bergen. Da wäre etwa das Thema der Sicherheit: Als Turmwartin habe ich dafür zu sorgen, dass die Besucherinnen und Besucher jederzeit gefahrlos die 344 Stufen erklimmen können. Bei Schnee, Regen oder starkem Wind gilt es, die Situation einzuschätzen und entsprechende Massnahmen zu ergreifen. Als es nach meinem Amtsantritt das erste Mal schneite, entdeckte ich Muskeln in meinem Körper, die ich zuvor nicht gekannt hatte – kaum hatte ich die Aussichtsplattform mit der Schaufel geräumt, konnte ich gleich wieder von vorne anfangen …
Dass Wäfler regelmässig als Wanderleiterin unterwegs ist, zeigt sich rasch auch auf unserem Spaziergang durch die regnerische Berner Altstadt. Ob beim Überqueren der Kirchenfeldbrücke, beim Flanieren unter den mittelalterlichen Lauben oder beim Halt vor dem Zytglogge: Die dynamische Endvierzigerin hat stets die Umgebung im Auge, lässt anderen Fussgängern konsequent den Vortritt und versorgt ihre Begleitung laufend mit vielen spannenden Informationen über Geschichte und Architektur der Mutzenstadt. Kein Wunder, kennt sie das Quartier wie ihre Hosentasche, hat sie doch viele Jahre lang hier gewohnt.
Sie sind in Adelboden aufgewachsen, im Berner Oberland. Als junge Erwachsene zogen Sie dann in die Hauptstadt, und das gleich mitten ins Zentrum. Was hat Sie zu diesem Tapetenwechsel bewogen?
Seit meiner Jugend haben mich die Altstadt von Bern und insbesondere das Münster magnetisch angezogen. Das urbane Flair, der architektonische Reichtum, das geschäftige Treiben, die Vielfalt der Leute … All das brachte mich zum Träumen. Meiner Liebe zu den Bergen hat der Umzug in die Stadt jedoch keinen Abbruch getan. Beiden Welten fühle ich mich tief verbunden, und die Gegensätze zwischen ihnen haben mein ganzes Erwachsenenleben geprägt. Zum Glück fällt es mir dank meiner Tätigkeit als Wanderleiterin – und natürlich dank meiner Familie in Adelboden – leicht, in Kontakt mit der Natur und der Höhe zu bleiben.
Und gegipfelt hat Ihre innige Beziehung zur Stadt Bern nun also im Amt als Münsterturmwartin, das Sie seit einem Jahr ausüben …
So könnte man es sagen! Das war schon lange mein Traumjob, und als meine Vorgängerin nach 16 Jahren zurücktrat, zögerte ich keinen Moment und bewarb mich sofort – eine Entscheidung, über die ich mich jeden Morgen von Neuem freue.
Auf unserem Stadtspaziergang, der uns unter anderem auch am Bärenpark vorbeiführt, wirft Wäfler immer wieder einen Blick in Richtung «ihres» Münsters. Der grösste spätmittelalterliche Sakralbau der Schweiz ist im Berner Stadtbild allgegenwärtig: «Eines Abends habe ich von meiner Wohnung im Norden der Stadt aus gesehen, dass im oberen Stock des Münsters
noch Licht brannte – also bin ich
zurück, um es auszumachen.»
Was gefällt Ihnen besonders an Ihrer Arbeit?
Dass ich in Kontakt mit Menschen
jeden Alters und aus aller Welt
komme, meine Spiritualität aktiv
leben kann und, vor allem, dass
ich ständig dazulerne. Nach einem
Jahr mit der Nase tief in Büchern
über Geschichte, Architektur und
Religion ist mir klar, dass ein Leben
nicht ausreichen wird, um mir
so viel Wissen anzueignen, dass ich
Antworten auf alle Fragen der Besucherinnen
und Besucher hätte.
Auf meine eigenen übrigens auch
nicht.
Welche Fragen werden Ihnen am häufigsten gestellt?
Bei den Erwachsenen reicht die Palette
von hochspezifischen Fragen,
etwa zur Alterung der Bausteine, bis zu touristischen Auskünften,
zum Bespiel über die Namen der
Berggipfel, die man von der Aussichtsplattform
aus sehen kann.
Die Kinder nimmt vor allem wunder,
wie hoch der Turm ist, wie viele
Stufen er hat – es sei denn, sie
wollen sie selbst zählen – oder
wie oft ich an einem Tag die Treppe
rauf- und runtergehe.
Letzteres würde ich auch gerne wissen.
Das ist ganz unterschiedlich. Heute
habe ich die Treppe bislang dreimal
benutzt – an manchen Tagen
ist das nur einmal, an anderen
fünfmal der Fall. Mein Rekord
liegt bei zehn. Das Treppensteigen
hält in Form, eine Bergwanderung
ersetzt es aber natürlich nicht …
Mittlerweile sind wir bei der imposanten, zwischen 1421 und 1893 im gotischen Stil erbauten Kirche angelangt und machen uns auf der engen Wendeltreppe auf den Weg nach ganz oben, hoch über der Stadt. Der Aufstieg ist anstrengend, was die fitte Turmwartin jedoch nicht davon abhält, Dinge zu zeigen, zu erklären und zu erzählen. Bei der unteren Glockenstube legen wir einen Halt ein, und Wäfler deutet auf die Burgerglocke: «Mit ihr wird am 31. Dezember von Hand mit zwölf Mitternachtsschlägen das neue Jahr eingeläutet. Letztes Jahr hatte ich erstmals die Ehre – eine verantwortungsvolle Aufgabe, ist die Glocke doch weitherum zu hören.» Trotz minutiöser Vorbereitung – und ihrem Partner als Unterstützung an der Seite – «war ich nach dem elften Schlag plötzlich kurz unsicher: War das jetzt wirklich der elfte oder doch schon der zwölfte? Und was wäre im Zweifelsfall besser: es bei elf Schlägen zu belassen oder einen dreizehnten zu riskieren?»
Auf der oberen Galerie angekommen, direkt unter der Spitze des Münsters, deutet Daniela Wäfler mit dem Finger in Richtung Eiger, Mönch und Jungfrau, die sich beharrlich im Grau verstecken. Für den Wow-Effekt müssen wir wohl an einem anderen Tag wiederkommen. Dafür zeigt uns die Turmwartin etwas anderes, nämlich den kleinen Raum, der ihr als Büro dient. Das Zimmer der ehemaligen Dienstwohnung «wird zweimal täglich durch ein Beben erschüttert, wenn um 11 Uhr und 15 Uhr die Betglocke ertönt». An Arbeiten ist dann nicht zu denken. «Sitze ich gerade am Computer, mache ich eine kurze Pause und nutze die Zeit, um die Magie des Orts bewusst wahrzunehmen.»
Sie haben es gesagt: Ein Leben wird Ihnen wahrscheinlich nicht ausreichen, um alle Geheimnisse des Berner Münsters zu lüften. Aber gibt es etwas, das Sie unbedingt erkunden möchten?
Ich würde gerne einmal bis ganz
nach oben klettern, auf die Turmspitze.
Natürlich müsste ich dafür
mit Klettergurt und Seil ausgerüstet
sein und würde mich von einem
der Spezialisten begleiten lassen,
die sich um den Unterhalt des
Dachs kümmern. Aber ich habe
den Eindruck, dass ich mir das
noch nicht verdient habe. Alles zu
seiner Zeit.
Daniela Wäfler
Seit Ende März 2023 ist Daniela
Wäfler die Turmwartin des
Berner Münsters. In dieser Funktion
kümmert sie sich vor allem um die
Besucher, sorgt für deren Sicherheit
und richtet Veranstaltungen
aus.
Ausserdem ist sie Stellvertreterin
des
Sigristen. Ursprünglich aus Adelboden,
im Berner Oberland, war sie
zuvor in der Pflege und als Sozialarbeiterin
tätig. Sie ist passionierte
Wanderin und Wanderleiterin mit
eidgenössischem Fachausweis.
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