«Auch als Einheimische habe ich durch die Spaziergänge noch viel Neues über meine Heimat gelernt», sagt die Luzerner Grafikerin Yvonne Portmann. Sie erinnert sich gerne daran zurück, wie sie mit wachem Blick durch altbekannte Quartiere gestreift ist, um Spaziergänge zu rekognoszieren. Zusammen mit Mirjam Bodmer-Müller, der Leiterin der Fachstelle für Altersfragen der Stadt Luzern, und Beat Bühlmann, einem pensionierten Journalisten und Gerontologen, hat sie zwei Spaziergangsbroschüren für Seniorinnen und Senioren gestaltet.
Zum Rotsee und zur Fähre
Mit dem gesamten Projektteam treffe ich mich an einem warmen Frühlingstag am Torbogen in Luzern, um einen ihrer Quartierspaziergänge zu begehen. Das Wiedersehen der drei ist freudig und heiter, sie haben sich schon eine Weile nicht mehr gesehen.
Der Spaziergang Nr. 14 aus der Broschüre 1 führt ab Maihof vom Stadtrand direkt ins Wohnquartier Luegisland. Nur wenige Schritte von der Bushaltestelle entfernt, beginnt der Wanderweg und führt zum grün schimmernden Rotsee hinunter. Die Temperaturen sind schon beinahe sommerlich an diesem Tag, und schnell sind die Übergangsjacken ausgezogen. Unter den Füssen raschelt trockenes braunes Laub, über den Köpfen leuchten junge saftige Blätter.
Nach Kurzem gelangen wir zur Anlegestelle der Rotseefähre, die auf eine rund 600 Jahre lange Geschichte zurückblickt. Kaum sind wir dort angekommen, beginnt ein rotes Licht zu blinken – es signalisiert, dass jemand am anderen Seeufer eine Überfahrt wünscht. Tiefenentspannt kommt der Fährmann aus dem Fährhaus und fragt freundlich, ob wir mitwollen. Wir verneinen für diesmal, gleichwohl es auch eine Spazierroute auf der anderen Seeseite gäbe, die durch den Sädel- und den Greterwald Richtung Stadt führt.

Tipp
Vor Beginn der Stadtwanderung bietet sich ein Besuch im Gletschergarten Luzern an, der liegt nämlich quasi auf dem Weg. Gletschertöpfe zeigen, dass sich Luzern während der letzten Eiszeit vor rund 20 000 Jahren noch unter einer dicken Eisschicht befand, und versteinerte Muscheln zeugen davon, dass die Stadt einst gar an einem subtropischen Meeresstrand lag. Ergänzt wird der Gletschergarten durch ein historisches Spiegellabyrinth.
Sitzbänke und wenig Steigung
Während wir auf einem roten Bänkli Platz nehmen und der Fähre zusehen, wie sie das stille, glänzende Wasser durchschneidet und in eine wellengerillte Oberfläche verwandelt, erzählen die drei von den Anfängen der Broschüren.
«Die Arbeit an der zweiten Broschüre fiel in die Pandemiezeit», erinnert sich Beat. «Mir gab das Projekt Halt und eine Aufgabe in dieser ungewöhnlichen Zeit.» Yvonne schliesst daran an: «Für mich war es toll, dass ich als Grafikerin nicht nur in die Gestaltung, sondern auch in die Planung, Recherche und Begehung involviert war.»
Da alle drei sehr ortskundig sind und teilweise schon ihr Leben lang in der Stadt Luzern wohnen, mangelte es ihnen nicht an Ideen für Spaziergänge. Aber die Routen sollten nicht nur hübsche Orte miteinander verbinden, sondern auch ganz klare Kriterien erfüllen, die für die Zielgruppe von 60+ beim Spazieren wichtig sind. So gibt es auf allen Spaziergängen ausreichend Sitzbänke, es ist eingezeichnet, wo Brunnen mit Trinkwasser sprudeln oder wo man an Begegnungszonen vorbeikommt. Zudem weisen die Spaziergänge nicht zu viel Steigung auf und dauern nicht länger als eineinhalb Stunden.
«Wir haben auch versucht, möglichst viele hindernisfreie Routen ausfindig zu machen. Das war gar nicht so einfach», reflektiert Yvonne. «Unser Blick für die Herausforderungen, mit denen Menschen mit Behinderungen im Alltag konfrontiert sind, wurde geschärft.». Die hindernisfreien Spaziergänge sind in der Broschüre als solche ausgewiesen.
Nicht zuletzt ist auf der Karte eingezeichnet, wo die nächste öffentliche Toilette zu finden ist oder wo es eine «nette Toilette» gibt – nämlich in 18 Restaurants, die ihre WCs Passanten gratis zur Verfügung stellen. Dafür erhalten sie von der Stadt eine jährliche Entschädigung von 1500 Franken. Die Seniorenspaziergänge sind im Gelände nicht speziell markiert, decken sich aber oft mit den Luzerner Wanderwegen. Der Verein ist Partner der beiden Broschüren. die unentgeltlich im Luzerner Stadthaus und in den Büros der Quartierarbeit bezogen oder unter stadtluzern.ch heruntergeladen werden können.
Geführte Spaziergänge
Um die Bekanntheit des Angebots zu steigern, hat das Projektteam einige geführte Spaziergänge organisiert. Bis zu 80 Spazierlustige nahmen daran teil. «Es hat sich eine regelrechte Stammkundschaft entwickelt, die bei jedem der geführten Spaziergänge dabei war», erinnert sich Beat schmunzelnd und fügt hinzu: «Für mich waren die geführten Spaziergänge der Höhepunkt dieser Projektarbeit.»
Für Körper und Geist
Die Spaziergänge wollen zum «Entdecken, Bewegen und Begegnen» ermuntern – nach diesem Motto sind die Broschüren auch benannt. «Entdecken, da wir dazu anregen möchten, mit offenem Blick durch die Stadt zu gehen», führt Yvonne aus. «Ausserdem liefern die Broschüren viele Zusatzinfos und Geschichten zu einzelnen Stationen.»
«Bewegen, da man durch das Gehen etwas für die physische und psychische Gesundheit tut», ergänzt Beat. Dies belegen auch Studien: Schon vier halbstündige Spaziergänge in der Woche reichen aus, um einen positiven Effekt auf die Gesundheit zu erzielen. Die Beweglichkeit wird trainiert und der Muskelabbau gehemmt, das Herz-Kreislauf-System und das Immunsystem werden gestärkt. Zudem wird durch den Aufenthalt an der Sonne die Vitamin-D-Produktion angekurbelt, das Stresslevel durch den Aufenthalt im Grünen gesenkt und der Schlaf nachweislich verbessert.
Hinzu kommt der soziale Austausch während des Spazierens – das Begegnen. «Spazieren ist oft eine gemeinschaftliche Aktivität, bei der man mit Nachbarinnen, Quartierbewohnern und Schulkindern ins Gespräch kommen kann», führt Mirjam aus.
Plauderbänkli
Wir lassen die Fähre hinter uns und spazieren weiter dem Rotseeweg entlang. Zahlreiche Sitzbänke laden zum Verweilen ein. Mirjam erklärt: «Es gibt die Grünen, die man auf Spielplätzen und Parkanlagen findet, die Blauen, die an VBL-Haltestellen stehen, und die Roten, die sich an Strassen, Plätzen und Wanderwegen finden.» Auf Höhe Rotseematte begegnen wir einem sogenannten Plauderbänkli. Diese Bänkli laden dazu ein, sich hinzusetzen und zu plaudern – vielleicht mit einer bis dahin noch unbekannten Person. Mirjam genehmigt sich noch einen Schluck aus dem Trinkwasserbrunnen, der auf der Karte ebenfalls eingezeichnet ist, bevor wir weitergehen.
Schutzpatron Pilatus
Wir schlendern weiter durch ein renaturiertes Vorstadtgebiet mitsamt Schrebergärten und Fischzucht in Richtung Friedhof Friedental. Er umfasst rund 14 000 Gräber und ist damit der fünftgrösste Friedhof der Schweiz. Hinter den Gräbern ragt mächtig der Pilatus empor und scheint wie ein Heiliger über die Ruhestätte zu wachen. Der Friedhof, durch den der Wanderweg hindurchführt, wird zunehmend als naturnaher Rückzugort, Stadtoase und Begegnungszone für Alt und Jung genutzt.
Grün – Grau – Grün
Hier endet der gemeinsame Spaziergang. Während sich die drei mit kräftigem Händedruck verabschieden und auf den Bus eilen, geht es weiter Richtung Stadtzentrum. Am verbauten und verkehrsreichen Ufer der Reuss ist von der Stadtnatur plötzlich nicht mehr viel zu spüren. Um dem urbanen Gewusel noch ein letztes Mal zu entkommen, nehmen wir die kleine Gütsch-Standseilbahn, sie fährt innert weniger Minuten auf den gleichnamigen Berg. Dort öffnet sich zur einen Seite der dunkelgrüne, frische Gütschwald, zur anderen dehnt sich die Stadt Luzern wie ein braun-weisses Mosaik aus, dahinter der silbrig reflektierende Vierwaldstättersee und die Rigi, die sich breit und bläulich am Rande des Sees auftürmt. So nahe können Stadt und Natur sein.

Dem Rotsee und der Reuss entlang
Wer Luzern hört, denkt vielleicht als Erstes an das schweizweit bekannte Verkehrshaus, an die mondäne Seepromenade am Vierwaldstättersee oder an die hübsche Altstadt. Nichts davon begegnet uns auf dieser Stadtwanderung. Stattdessen besucht man ein wertvolles Brutgebiet für einheimische Vögel, spaziert durch ein renaturiertes Gebiet im Rahmen des Labels «Grünstadt Schweiz», spürt die Ruhe auf dem fünftgrössten Friedhof der Schweiz und geniesst die Aussicht vom Gütsch. Die Stadtwanderung beginnt bei der Bushaltestelle Luzern, Maihof. In wenigen Schritten ist das Ufer des Rotsees erreicht. Der zweieinhalb Kilometer lange See eignet sich ausgezeichnet als Regattastrecke, weshalb hier jährlich der Ruder-Weltcup stattfindet. Entlang des Seeufers, das zum Naturschutzgebiet gehört, geht es weiter in Richtung Westen. Wer verweilen möchte, kann auf einer der zahlreichen Sitzbänke Platz nehmen. Dank einer cleveren Wanderwegführung kann die verkehrsreiche Sedelstrasse umgangen werden, und bald schon befindet man sich an der Seite des Reuss-Rotsee-Kanals mitten in einem naturnah gestalteten Vorstadtgebiet. Nach Schrebergärten und einer Fischzucht erreicht man den Friedhof Friedental, von wo sich einerseits ein Blick zurück auf den Rotsee, andererseits ein Ausblick auf den Pilatus bietet. Am Hirschpark vorbei führt die Stadtwanderung hinunter zur Reuss. Auf den nächsten Metern ist die Urbanität stark zu spüren. Wer ihr noch einmal entfliehen möchte, legt einen Abstecher auf den Gütsch ein – entweder, indem man dem Gütschweg folgt, oder indem man die kleine Standseilbahn nimmt. Beim Château Gütsch angekommen, erwartet einen eine prächtige Aussicht auf die Stadt und das Seebecken, im Hintergrund die Königin der Berge, die Rigi. Die Route führt ein letztes Mal in erholsame Stadtnatur, nämlich in den Gütschwald, bevor sie dann via Bruchquartier, vorbei an Jesuitenkirche, Stadttheater und Kapellbrücke, am Bahnhof endet.