Wer Ebbe und Flut überleben will, muss clever sein. Das zeigt sich schon auf dem Weg zum Watt, in den Salzwiesen. Bei Sturmflut stehen diese jeweils unter Wasser, trotzdem leuchten sie jetzt grün und saftig. «Das ist nicht selbstverständlich, denn der Boden ist voller Salz. Und diese hohe Konzentration ist Gift für den Stoffwechsel fast aller Wurzelpflanzen. Die Pflanzen hier sind Überlebenskünstler», erzählt Uwe Garrels. Der Wattführer – seine Füsse stecken in hohen Gummistiefeln, in den Händen hält er ein Fangnetz und eine Stechgabel – sprudelt nur so, wenn er von der Insel Langeoog erzählt, die zu den Ostfriesischen Inseln im Nordwesten Deutschlands gehört.
Er zupft einige Halme eines Grasbüschels ab. «Leckt sie ab!», fordert er uns auf. Die Halme glitzern im Licht. «Das Englische Schlickgras scheidet das Salz direkt auf der Oberfläche aus», erklärt Uwe. Und so erstaunt es nicht, dass die Halme salzig auf der Zunge schmecken.
Jede Pflanze hat ihre Strategie: Die Strandaster mit ihren fleischigen Blättern lenkt das Salz in die unteren Blätter; sobald diese absterben, ist sie das Salz los. Der Queller – mit seinen dicken Stängeln und schuppenartigen Blättern erinnert er an Kakteen – lagert das Salz in seine Zellen ein. Damit die Salzkonzentration nicht zu hoch wird, erhöht er den Wassergehalt, die Pflanze quillt immer mehr auf: «Der wächst also um sein Leben», sagt Uwe. «Im Herbst, wenn er nicht mehr weiterwachsen kann, vergiftet er sich selbst und stirbt ab. Nicht ohne vorher Samen abzuwerfen, die von den Fluten verteilt werden.»
Ode an die Zwischensaison
Nicht nur das Überleben der Pflanzen ist an der Nordseeküste anspruchsvoller als anderswo, sondern auch das Wandern. Jedenfalls im Herbst und im Frühling, wenn nicht wie im Sommer Tausende von Velofahrenden die Küste säumen. Dann kommt der Abend früh. In der Dämmerung scheinen Wasser, Watt und Wolken sanft und in allen Blautönen. In dieser Ruhe atmet man richtig durch, im Angesicht der kristallklaren Weite der Landschaft, des Meeres. Der Alltag ist auf einmal weit entfernt.
Um diese Momente geniessen zu können, sind gute Kleider nötig. Mit dem Zwiebellook können die einzelnen Schichten an- und wieder ausgezogen werden, wie es das schnell wechselnde Wetter erfordert. Denn ein bewölkter Himmel und etwas Regen gehören hier dazu – sie sorgen für Stimmungen, die es bei Sonnenschein nicht gibt.
Regelmässig, und doch nicht
Und dann sind da auch noch Ebbe und Flut, die manches verun-, aber auch ermöglichen. «Wer ist verantwortlich dafür?», hat Uwe gleich zu Beginn der Wattwanderung fordernd in die Runde geworfen. Die Gruppe stand noch im Trockenen und versuchte sich zu erinnern. «Der Mond», «die Erdanziehungskraft», wurde vorgeschlagen. «Der Mond, ja. Die Erdanziehungskraft, nein. Aber wer ist noch beteiligt?», hakte der pensionierte Bürgermeister der Insel nach, bis auch die Sonne als Verantwortliche identifiziert war.
Und so erklärte er die Gezeiten: Die Sonne zieht die Wassermassen auf der ihr zugewandten Erdseite an. Auf der sonnenabgewandten Seite ist die Anziehungskraft am geringsten, dort bildet sich ein Nichtanziehungsextrem, ebenfalls ein Hochwasser. Und weil die Wassermasse auf der Erde immer gleich ist, gibt es dazwischen zwei Niedrigwasser. Daraus ergibt sich ein Sechsstundenrhythmus für Flut und Ebbe.
So weit, so regelmässig. Doch da ist noch der Mond, der das Wasser auch anzieht – sogar etwa doppelt so stark wie die Sonne. Er dreht in 29,5 Tagen um die Erde und erscheint so – von einem Punkt auf der Erde gesehen – jeden Tag etwa 50 Minuten später am Horizont. Mit der Folge, dass Ebbe und Flut des Mondes etwa sechs Stunden und zwölf Minuten dauern. Weil sich die Gezeitenwirkungen des Mondes und der Sonne überlagern, können sie sich verstärken oder schwächen, beschleunigen oder bremsen.
Die wirkliche Erscheinung der Gezeiten auf der Erde ist aber noch viel komplexer, weil die Gezeitenwellen durch Kontinente, Inseln und die Kugelform der Erde tausendfach gebrochen und abgelenkt werden, auch wenn sie alle dem Zeitrhythmus von Sonnen- und Mondtag folgen müssen.
Wandern nach Kalender
Und so zückte Uwe den Flutkalender. Alle Uhrzeiten von Ebbe und Flut stehen im abgegriffenen Büchlein, geordnet nach Ortschaften – und wir merkten schnell: An der Nordsee wandert man nach Kalender. Die Strandwanderung entlang der gesamten Nordseite der Insel führt bei Ebbe über den weiten Strand, durch ein Mosaik von Muschelscherben, Vogelspuren und wellenartig geformtem Sand. Bei Flut wandert man am Rand der naturgeschützten Dünen.
Wetterunabhängig ist die kurze Wanderung am Langwarder Groden, drüben am Festland auf der Halbinsel von Butjadingen. Dort führt ein Weg durch die Marschlandschaft. Und wo das durch Meeresablagerungen entstandene Land bei Flut vom Meerwasser umspült wird, stehen Holzstege. Wer den Ort zu zwei verschiedenen Gezeiten besucht, erlebt den Unterschied eindrücklich. Bei Flut ragen nur einzelne Grashalme aus dem Wasser. Bei Ebbe thronen kleine Grasbänke auf dem feuchten Sand, schmale Rinnsale schlängeln sich durch den Sand.
Flanieren auf dem Deich
Ebenso bei jedem Wetter stimmig sind Deichwanderungen. Etwa bei Hooksiel, wo erst Sandstrand, später – je näher man Wilhelmshaven kommt – Industrie und Containerschiffe beeindrucken. Deiche sind oft von saftigem Gras bewachsen, auf dem Schafe weiden: Die Wurzeln des Grases halten den Boden zusammen und schützen den Deich vor Erosion durch Wind und Wetter. Die Schafe ihrerseits sorgen für die Pflege: Sie mähen, düngen und verdichten die Weiden.
Fürs städtische Flanieren empfiehlt sich der Fliegerdeich in Wilhelmshaven: Hier landeten einst Wasserflugzeuge der deutschen Armee. Offiziere trafen sich im Casino auf dem Deich, das zu einem schmucken Hotel mit Restaurant umgebaut worden ist und wo sich ein Zvieri lohnt, bevor ein Besuch im örtlichen Aquarium, im Deutschen Marinemuseum oder im Unesco-Wattenmeer-Besucherzentrum anstehen könnte.
Achtung, Lebensgefahr!
Im Watt draussen hat Uwe unterdessen die Stechgabel in den Schlick gerammt. Beim Runterdrücken des Stiels lösen sich Brocken des Meeresbodens. Ihre Bruchstellen sind dunkelgrau, dünne braune Gänge sind sichtbar. «Wenn Ebbe ist, ziehen sich die Tiere in den Boden zurück», erklärt Uwe. «Hier oben ist es für sie lebensgefährlich, wegen der Vögel.» Unten ist aber der Sauerstoff knapp, weshalb zum Beispiel die Pfeffermuschel von Zeit zu Zeit ihren langen Sipho an die Oberfläche führt, wo das röhrenartige Organ Wasser, Plankton und Sauerstoff aufsaugt. Zurück bleiben sternförmige Zeichnungen im Sand, welche die Wandernden erst mit den Abdrücken von Möwen verwechselt haben.
So geht die Wanderung weiter, mal durch knöcheltiefen Schlick – «Gehen, gehen! Nicht zögern!», befiehlt Uwe, damit die Stiefel nicht zu fest einsinken –, mal durch Wasser, wo das Vorwärtskommen einfacher ist. Ab und zu ziehen sich Wasserströme durch das Watt: «Das sind Priele. Ein- und ablaufendes Wasser, das sich seinen Weg immer neu suchen muss.»
Dann hebt er aus dem knöcheltiefen Wasser einen Klumpen heraus, der sich als drei Pazifische Austern entpuppt. Weil hier Felsen fehlten, hätten sich die Austern einfach aneinandergeklebt. Zahlreiche Herzmuscheln sowie Seepocken und Algen hefteten sich ebenso an die Austern. «Ein kleines Biotop – jedes Lebewesen profitiert vom andern», sagt Uwe, während er sorgfältig eine Strandkrabbe aus ihrem Versteck herausgreift, herumzeigt und wieder zurücklegt.
Zauberhaftes Knistern
Das Wasser einzelner Priele beginnt nun landwärts zu fliessen. Die Sonne steht immer tiefer. Es ist Zeit, den Rückweg anzutreten, bevor die Flut kommt. Stiefel für Stiefel stapft in den Schlick, wird wieder herausgezogen. Ganz schön anstrengend, und als Uwe während einer Pause eine lange, rechteckige Schwertmuschel auf den Sand legt, diese sich nach wenigen Sekunden mithilfe ihres kleinen Fusses aufrichtet und sich in den Boden verzieht, fällt es einem plötzlich auf: Rundherum knistert es millionenfach, ganz leise nur, aber ohne Ende. Es sind Schlickkrebse, Muscheln und gärende Gase, die es hervorzaubern. «Hört ihr es auch?», fragt Uwe leise und schaut geheimnisvoll in die Runde. «Das Wattknistern.»
Wanderungen: Langeoog: Geführte Wattwanderungen unter langeoog.de. Individuelle Strandspaziergänge entlang der Nordseite, zum Beispiel der Falkenweg rund ums Osterhook (2 h), wo manchmal Seehunde rasten. Gezeitenkalender im Auge behalten.
Festland: Zahlreiche Dämme sowie der Langwarder Groden sind frei zugänglich. Beim Damm von Hooksiel gibt es gar einen «Gipfel» zu erklimmen: Das Kreuz mit Gipfelbuch des Dietrichsbergs liegt auf knapp 16 m ü. M. (siehe Google Maps).
Die Wattflächen gehören zum Unesco-Weltnaturerbe. Bestimmte Bereiche sind geschützt und dürfen nicht betreten werden. Infos vor Ort beachten.
Reisezeit: Im Sommer gibt es viele Velos, weshalb die Zwischensaisons und der Winter für Wandernde attraktiv sind.
Anreise/Verkehr: Mit dem Nachtzug ab Basel nach Bremen. Direktbus des Ostfriesland Express (edzards-reisen.de/ostfriesland-express) nach Bensersiel, wo die Fähre nach Langeoog (langeoog.de) fährt. Langeoog ist autofrei, die Startorte der Wanderungen können mit Mietvelos erreicht werden. Auf dem Festland empfiehlt sich die Automiete, z.B. in Bensersiel. Für Teilstrecken eignen sich Nordseeflitzer: Übernachtungsgäste können mit der digitalen Nordseecard Elektroautos für bis zu vier Stunden kostenlos mieten (nordsee53grad.de).
Unterkünfte und Infos: Auf buchen.nordsee53grad.de und langeoog.de buchbar